Bei Wahlen zählt die einzelne Stimme meist kaum, und auch beim CO₂ ist der Einzelne nur ein Sandkorn. Heißt das wirklich, dass einer allein beim Klimaschutz keiner ist?
Wir dokumentieren hier einen sehr lesenswerten Artikel des Journalisten Bernd Ulrich aus der Wochenzeitung “Die Zeit”.
Aber, aber, aber … – in der Serie “Klima-Ausreden” prüfen ZEIT und ZEIT ONLINE regelmäßig die beliebtesten Ausreden zum Klimaschutz.
Wenn man darüber nachdenkt, wie klein die Erde ist im Vergleich zum Universum, dann kann einem schon die kosmische Kälte die Beine hochkriechen. Obendrein sind wir alle nur ein Achtmilliardstel der Menschheit, also quasi nichts und niemand, wieso steht man da überhaupt morgens aus dem Bett auf? Selbst wenn wir uns im Kontext eines mittelgroßen Staates sehen, Deutschland zum Beispiel, so muss man leider sagen: Es kommt auf keinen von uns wirklich an, nicht mal auf den Bundeskanzler, auch er ist jederzeit ersetzbar, ja, doch, Olaf!
Apropos, bei Wahlen zählt die eine eigene Stimme unter den 61,18 Millionen Wahlberechtigten ebenfalls beinahe nichts, da kann man abstimmen, wie man will, und am Ende wird doch jemand Kanzlerin, die man gar nicht gewählt hat. Und dann das mit den Steuern. Fast eine Billion Euro nimmt der Staat jedes Jahr ein, und da soll ich das Abendessen mit Freunden nicht als Geschäftsessen einreichen? Bin ich denn verrückt?!
Ja, ja. Es ist halt nur so, selbst wenn alle nur Sandkörner sind, will doch keiner und keine nur Sandkorn sein. Gegen die kosmische Kälte haben sich die Menschen deshalb allerlei Religionen mitsamt Geboten ausgedacht, bei den Wahlen fühlen sie sich staatsbürgerlich verpflichtet, bei der Steuer geht’s nicht nur ums Erwischtwerden, sondern auch um, nun ja, Anstand. Das alles dient dazu, dass die nummerische Fast-Nulligkeit des Menschen nicht zu einer Fast-Nulligkeit seiner Moral führt, was andernfalls die Gesellschaften sprengen und buchstäblich demoralisieren würde. Kurzum: Das infinitesimale Runterrechnen ist im Grunde ein Gauner-Argument.
Nur beim Klima scheint für viele nicht zu gelten, was auf anderen Feldern eine Frage des Anstands und des Selbstrespekts ist. Wenn es um Emissionen geht, neigen viele von den 8 Milliarden Menschen dazu, sich hinter den 7.999.999.999 anderen zu verstecken, sie verlieren da ihre bürgerliche Façon.
Wobei es ja auch noch darauf ankommt, wer die Ausrede spricht. Ein Deutscher emittiert pro Jahr acht Tonnen CO₂, ein Inder nur zwei, ein Deutscher mit höherem Einkommen, also die meisten von denen, die an Klimadebatten überhaupt teilnehmen, emittieren zwölf Tonnen pro Kopf. Und mehr. Und viel mehr. Vielleicht könnte man sich darauf einigen: Wer so viel emittiert wie sechs (oder 60) Inder, sollte sich vielleicht eine bessere Ausrede suchen, damit die kosmische Kälte ihn weniger kribbelt.
Link zum Original-Artikel:
Die Postsiedlung – Solidarität findet Stadt.