Stellen sie sich einmal vor sie investieren 5,7 Millionen Euro, um den Darmstädter Südbahnhof barrierefrei zu machen. Dann steht dort ein schicker neuen Betonsteg mit Aufzug, der Bahnsteig wird komplett erneuert und angehoben: Alles so schön neu hier. Doch was sagt der Praxis-Check?
Im Rahmen und mit Förderung des von der Aktion Mensch unterstützten Europäischen Protesttags für die Rechte von Menschen mit Behinderung, machten wir uns von Zusammen in der Postsiedlung e.V. nach 2019 wieder auf den Weg, einen Film über die Barrieren im Quartier in und um die Postsiedlung zu produzieren. Unterstützt wurden wir dabei erneut vom Darmstädter CBF – Club der Behinderten und ihrer Freunde e.V. und der EUTB Darmstadt, der Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung des Vereins GleichxAnders e.V.
Besonders gefreut haben wir uns, dass bei unserem kritischen Quartier-Rundgang gleich zwei Menschen mit Rollstuhl, zwei Menschen mit starker Sehbeeinträchtigung und zwei Menschen mit einer geistigen Behinderung an Bord waren. Kompetenter kann man existierende Barrieren nicht checken!
Frisch gestärkt durch Kaffee und leckere Backwaren, ging es direkt zu Beginn zum Darmstädter Südbahnhof. Dieser wurde 2020 im Rahmen eines Barrierefrei-Projektes der Deutschen Bahn für 5,7 Millionen Euro aufwendig umgebaut. Doch was sagt die Realität zur Barrierefreiheit vor Ort?
Für Menschen mit Sehbeeinträchtigung / blinde Menschen ist bereits der Weg zum Südbahnhof eine schwierige Etappe. Die Ampel vom Danziger Platz zum historischen Südbahnhof-Gebäude schaltet nur ca. 5 Sekunden auf Fußgänger-Grün, selbst für Menschen ohne jede Beeinträchtigung ist das viel zu kurz und eine echte Hetze. Zudem ist der Verkehrslärm dort so groß, dass die akkustischen Signale für Fußgänger-Grün schlicht nicht zu hören sind. Schade! Aber alles Dinge, die man von Seiten der Stadt ändern kann.
Schwierig auch, dass die Blindenleitstreifen auf dem Boden vor einem Metallzaun und dem seit einem Jahr geschlossenen historischen Südbahnhof enden. Dass hundert Meter weiter der neue Bahnsteig beginnt, muss man schon wissen – einen Hinweis darauf gibt es nicht.
Angekommen am neuen Bahnsteig, wurde dort aber auf die Bedürfnisse von Menschen mit Sehbeeinträchtigung / blinder Menschen gut geachtet. Ein stringentes Leitsystem weist den Weg, im Fahrstuhl macht eine elektronische Stimme auf die Funktionen aufmerksam. Auch am Bahnsteig sind durchgehend Leitsysteme im Boden eingelassen. Super!
Ebenso gut klappt dieser Weg für Menschen im Rollstuhl, hier passen sogar mehrere Rollstühle auf einmal in den Aufzug. Prima!
Am neuen Bahnsteig angelangt, kommt wie gerufen auch schon ein recht neuer Zug der VIAS angefahren. Nach dem Halt des Zuges wird auf einmal offenbar: Der Einstieg befindet sich sehr viele Zentimeter unterhalb des Bahnsteigs. Würde man jetzt alleine und ohne Hilfe in den Zug einfahren, würde man einen Satz nach unten machen, der Rollstuhl dabei wahrscheinlich kippen.
Nachfrage bei den beiden Rolli-Fahrern im Team: Ja, dass sei so. Wenn sie hier mit einigen Zügen alleine fahren wollten, dann müssten sie das vorher anmelden, damit man ihnen beim Einstieg hilft.
Moment, noch einmal die Fakten ganz langsam, damit nichts durcheinander geht: Der Darmstädter Südbahnhof wird unter der Überschrift “Barrierefrei” für satte 5,7 Millionen Euro umgebaut. Das Ergebnis hiervon ist, dass ein Rollstuhlfahrer, der alleine unterwegs ist, seine Zugmitfahrt mitunter vorab anmelden muss, damit ihn jemand in den Zug bringt, der nach Angabe des Betreibers ein moderner, barrierefreier Zug ist.
Das ist doch ein Ding oder?
Ist es nicht so, dass in sehr, sehr vielen Zeitungsartikeln, Image-Broschüren und Sonntagsreden davon gesprochen wird, dass die Barrierefreiheit dazu notwendig ist, um Menschen mit Handicap ein autonomes, also unabhängiges Leben möglich zu machen?
Ist das der Fall, wenn ich Tage vorher einen quasi Antrag stellen muss, damit man mich an einem eigentlich barrierefreien Bahnhof in einen eigentlich barrierefreien Zug bringt? Hui, huih, huih…
Für beide Rolli-Fahrer ist das der verrückte Alltag, der Rest unserer Gruppe kocht vor Wut. Wäre das nicht ein Fall für die Satire-Sendung Extra3 und dem dortigen Irrsinn der Woche?
Merklich irritiert ziehen wir weiter zu unserem Quartier-Bäcker, der Bäckerei Bormuth in der Ingelheimer Straße. Schon vor zwei Jahren haben wir dort bemängelt, dass mensch aufgrund der Stufen weder mit Rollator, noch mit Rollstuhl oder Kinderwagen hineinkommt. Aufgrund unserer Kritik kamen wir ins Gespräch mit Herrn Bormuth, der klar und deutlich auf die Verantwortung der Hauverwaltung Sohrweide verwies. Die Eigentümerversammlung müsse das beschließen.
Nun, die Versammlung der Eigentümer tut aber anscheinend nichts, weswegen wir heute erneut vor Ort waren. Wir meinen: Eigentum verpflichtet, hier muss gehandelt werden. Übrigens auch beim benachbarten Zahnarzt, Psychotherapeuten, Paketversand und Sonnenstudio. Michael Müller vom CBF war so freundlich und hat sogar eine umfassende Planung für eine mögliche Rampe vorgelegt: Es liegt also alles auf dem Tisch!
Kommen wir zum erfreulichen Teil: Unser Quartierladen vom Verein Zusammen in der Postsiedlung e.V.. Während wir vor zwei Jahren noch mit vielerlei Barrieren in unserem Quartierladen eher negativ glänzten, haben wir viel geschuftet und zugleich mit Unterstützung der bvd Gewerbe der Bauverein AG sowie Mitteln der großartigen “Echo hilft!” Aktion das Thema Barrierefreiheit vollumfassend in die Hand genommen.
Der heutige Praxistest beweist: Es hat prima geklappt! Beide RollstuhlfahrerInnen kamen problemlos in Küche und auf das behindertengerechte WC. Wir freuen uns riesig über diesen für uns großen Schritt!
Natürlich ist auch dieser Aktionstag von unserer Filmemacherin Angelina Dahlinger ausführlich dokumentiert worden, garniert mit vielen Interviews. Dieser Film wird bald auf dieser Seite zu sehen sein.
Vielen Dank an alle Aktiven dieses Tages für das tolle Engagement! Gemeinsam beseitigen wir die Barrieren im Quartier in und um die Postsiedlung!
Die Postsiedlung – Solidarität findet Stadt.