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Historie: Das ehemalige Chausseehaus in der Heidelberger Straße / Ecke Bessunger Straße (1744 – 1903)

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Auf unseren historischen Aufruf haben wir von einem sympathischen älteren Herren, dessen Name aber nicht genannt werden soll, eine ganze Reihe von schönen Fotos und Texte zu unserer lokalen Quartiergeschichte erhalten. Heute möchten wir mit der spannenden Geschichte des ehemaligen Chausseehaus beginnen. Wir sagen DANKE für den tollen Artikel und wünschen viel Spaß!

Das Chausseehaus Ecke Heidelberger Straße und Bessunger Straße zog seine Vorteile aus dem regen Durchgangsverkehrs der Fuhrleute. Hier gab es Krippen für die Fütterung der Pferde und damit regen Besuch. Das Chausseehaus war ursprünglich eine Thurn- und Taxis‘sche Poststation. Die Fürsten von Thurn und Taxis hatten ja das kaiserliche Postprivileg in Erbpacht und hatten mit Hessen 1744 einen Vertrag geschlossen. Gleichzeitig wurde dort das Chausseegeld erhoben.

Auf alten Bildern sieht man, dass das Chausseehaus ein stattliches zweistöckiges Gebäude war mit zwei mächtigen Kastanien davor. Zu dem Gastwirtsbetrieb für die Fuhrleute gehörten verschiedene landwirtschaftliche Gebäude sowie Unterkünfte für die Reisenden und Postillione. Dahinter war ein großer schattiger Garten, in dem dann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Musiktempel und später ein großer Gartensaal errichtet wurde.

Vor der Erbauung des Darmstädter Saalbaus (1873) war es der größte Saal weit und breit, der zu allen möglichen Veranstaltungen benutzt wurde, so 1848 zu Volksversammlungen, zu Kommersen der damaligen Polytechniker und zu den Bällen der Bessunger Turner, die 1867 hier auch ihr erstes Schauturnen abhielten. Auch die ersten „Judithfeste“ fanden im Chausseehaus statt, so 1859, 1860 und 1862. Sie wurden von den Darmstädter „Akzessisten“ (Beamtenanwärtern) veranstaltet und waren wegen ihrer Possen, Kanzleiszenen, Opernparodien und ausgelassenen Fröhlichkeit sehr beliebt. Nach dem Frühschoppen am anderen Morgen ging es nachmittags meist weiter nach Pfungstadt. Beim ersten Judithfest 1859 (Judith war die Namenspatronin dieses 10. Dezember) hatten übrigens die Herzer einen ihrer letzten Auftritte: sie machten die Musik zu der Opernparodie „Die Wolke des Mißgeschicks“.

Das Chausseehaus um 1850

Einer der Hauptgründe für die große Beliebtheit des Chausseehauses bei Darmstädtern und Bessungern war jedoch das vorzügliche Essen, das hier serviert wurde, und vor allem die großen Portionen, an denen sich ein mäßiger Esser zweimal sattessen konnte. Die gebratenen Spanferkel waren besonders geschätzt. Alt und jung, arm und reich waren sich einig in der Wertschätzung dieser Gaststätte – es gab hier keine Standesunterschiede. So hat sich z. B. der Chausseehauswirt Wiener in den 1840er Jahren durch seine vorzügliche Verpflegung ausgezeichnet, als die Großherzogin Mathilde der Hofgesellschaft im Orangeriegarten einen Tee gab. Ein bekannter Stammgast im Chausseehaus war der Theaterkomiker Hanstein. Er, der es kaum fertigbrachte, an einem Wirtshaus vorbei zugehen, nahm sich nun eines Tages fest vor: „Sei ein Mann und geh vorüber!“ Er tat das auch, und als er einige Schritte vorbei war, stolz über seine Standhaftigkeit, glaubte er eine Belohnung verdient zu haben und ging zurück, um ein paar Schoppen zu trinken und erhobenen Hauptes den Gästen seine rührende Geschichte zu erzählen.

Um die gleiche Zeit, etwa 1820, hat der Bessunger Forstmeister Lipp, der ebenfalls Stammgast im Chausseehaus war, dort etwas Neues eingeführt, nämlich die später so berühmten „Forstmeister“. Das waren nicht etwa besondere Schnäpse, sondern Brötchen in Form kleiner Laibe, die er sich aus Kornvorschussmehl mit etwas Kümmel backen ließ. Sie wurden bald bekannt und gern mit der Darmstädter „Knöpcheswurst“ (eine Hartwurst mit Knoblauch) verzehrt.

Aber der Ruhm des Chausseehauses kam nicht nur vom guten Essen und Trinken. Seine Attraktivität für Darmstadt und Umgebung verdankte es seinen ausgezeichneten musikalischen Veranstaltungen. Die Seele dieser Konzerte in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts war der hochbegabte Musiker Herz Hähnle Hachenburger, ein Schüler des berühmten Abt Vogler, der auch der Lehrer von Meyerbeer und von Karl Maria von Weber war. Dieser Herz Hachenburger also hatte mit seinem Bruder Moses und seinen Vettern Abraham und Moses ein Quartett gebildet, das in den höchsten Kreisen begehrt war. Er musste auch oft bei Hof spielen. Auch machte er die neueste Musik bekannt, so z.B. die von Mendelssohn-Bartholdy. Und im Chausseehaus sorgte er nun in seinen Donnerstags-Konzerten für überfüllte Säle. Aus dem Streich-Quartett entwickelte sich allmählich ein bedeutendes Streichorchester. Manche Theatermusiker verdienten sich hier ein Zubrot, und seine Söhne spielten darin bald eine führende Rolle. Von den Bessungern und Darmstädtern wurde Herz Hachenburger um diese Zeit liebevoll „unser Strauß‘ genannt. Hachenburger bekam von seinen vielen Verehrern ein wunderschönes Grabdenkmal gestiftet, das heute noch auf dem Jüdischen Friedhof am Steinbergweg zu bewundern ist.

Um die Jahrhundertmitte hatte das Chausseehaus eine neue Attraktion zu bieten. Der Chausseehausgarten ging nämlich damals bis an die neue Eisenbahnlinie, die vom jetzigen Steubenplatz aus über die Landgraf-Philipps-Anlage den heutigen Donnersbergring entlang in Richtung Eberstadt führte. Man kann sich denken, dass viele Gäste des Lokals ihren Aufenthalt hier nutzen wollten, um die Eisenbahn zu bewundern, die hier unten vorbeibrauste, denn eine Station für Bessungen gab es erst ab 1879. Sie standen dabei auf einem Hügel, der durch eine Erdaufschüttung entstanden war, weil die Bahngleise hier eine Strecke tiefer lagen als das umgebende Gelände. Das war in den ersten Jahren natürlich ein Erlebnis. Im letzten Bild vom „Datterich“ wird das von Knippelius wie folgt beschrieben: „Wos werds do als uf dem Chausseehaus so voll sei, dann do geht se, glahw‘ich, unne dorch de Gadde; uf de ahne Seit die Herzer un uf der annern die Dampwäje: mer mahnt, mer wehr in Barihs.“

Auch für die Kinder gab es eine Zugnummer in dem großen schattigen Chausseehausgarten, nämlich ein Karussell. Es bestand aus einer 1,50 m hohen dicken, senkrecht stehenden Welle. Darin steckten vier waagrechte Balken in Kreuzform mit vier kleinen Wagen am Ende für die Mädchen. Die Buben saßen rittlings auf den Balken. Zwei bis drei Mann mussten diese vorsintflutliche Drehschaukel im Kreis herumdrücken.

Gedenkplatte am heutigen Tanzclub Huckebein

Der damalige Wirt Ludwig Rost war ein guter Geschäftsmann. Er verstand es, seinen Gästen immer etwas Neues zu bieten. 1862 organisierte er eine Sommer-Theater-Saison“. Eröffnet wurde sie am 22. Juni in seinem „neuerbauten Sommertheater“. Das war eine Bühne mit Holzdach, die er im Garten hatte errichten lassen.

Die Uraufführung des „Datterich“wurde durch folgende Zeitungsanzeige angekündigt:

„Sommer-Theater. Einem hochverehrten Publikum mache ich die ergebene Anzeige, daß künftigen Samstag den 2. August meine BenefizVorstellung stattfindet. Durch die Wahl der allgemein bekannten und beliebten Darmstädter Lokal-Posse „Datterich“ von Elias Streff (der studentische Kneipname von Niebergall und sein Pseudonym) glaube ich vielfachen Wünschen entgegengekommen zu sein und bitte um recht zahlreichen Besuch.    Louis Nötel“

Nötel war Schauspieler der Truppe und spielte die Titelrolle. Die Einnahmen der Vorstellung sollten vor allem ihm zu Gute  kommen.

Leider ist über den Erfolg des Abends nichts bekannt, denn das „Darmstädter Frag- und Anzeigeblatt“, aus dem später das „Darmstädter Tagblatt“ wurde, brachte damals noch keine Besprechungen oder gar Kritiken, sondern nur Bekanntmachungen und Anzeigen aller Art.

Chausseehaus mit Dampfstraßenbahn

Noch ein Ereignis sollte nicht vergessen werden. Am 25.8.1886 gab es einen Volksauflauf am Chausseehaus. Halb Bessungen war auf den Beinen. Die Kinder drängten sich vor, und die Alten konnten kaum nachkommen. Was verursachte die Aufregung? Sie hatte nicht unmittelbar mit dem Chausseehaus zu tun, das jedoch in der Folgezeit davon profitierte.

Es war die Dampfstraßenbahn, die neueste technische Errungenschaft, die, bestückt mit zylinderbewehrten Prominenten, erstmals die Heidelberger Straße entlang nach Eberstadt fuhr. Und hier, an der Bessunger Haltestelle, konnte man alles deutlich sehen. Da bimmelte eine helle Glocke auf der Lok, aus der gleichzeitig mit lautem Geräusch Dampf abgelassen wurde. Der An- und Abpfiff der Lok machte einen ohrenbetäubenden Lärm.  Die erste öffentliche, für alle zugängliche Fahrt war dann am 30. August. An diesem ersten Abend fuhren über 100 Teilnehmer des Darmstädter Karnevalvereins nach Eberstadt um dort einen lustigen Abend zu veranstalten. Von jetzt ab fuhr die Bahn täglich 11mal in jeder Richtung. Am 30. April 1914 machte die Dampfstraßenbahn nach Eberstadt ihre letzte offizielle Fahrt; sie wurde von der elektrischen Straßenbahn, die seit 1897 bereits auf zwei Linien eingesetzt wurde, abgelöst.

Zurück zum Chausseehaus. Es wurde 1903 abgetragen. Der letzte Wirt, Johannes Wenz, führte seinen Betrieb im Neubau Heidelberger Straße 89 weiter. Aber die Glanzzeit des alten Hauses war vorbei. Anstelle des ehemaligen Gartensaales entstand das Belida-Kino, heute Discothek und Club Huckebein. In die Mauer dieser Einrichtung wurde eine Gedenktafel eingelassen, die auf die erste Aufführung des „Datterich“ hinweist.

Chausseehaus um 1905
Chausseehaus 2012

Der Wirt Faust, erwähnt in der Darmstädter Lokalposse Der Datterich, übernahm 1838 übrigens auch die gastronomische Versorgung der Ludwigshöhe.

Die Postsiedlung – Solidarität findet Stadt.