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Quartier: Bürgerhaushalt der Stadt auf Tauchstation? Unser Engagement – und das ernüchternde Ergebnis – Teil I

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In den letzten Wochen und Monaten sind wir immer wieder gefragt worden, was eigentlich aus unseren vielen Anträgen im sogenannten Bürgerhaushalt der Wissenschaftsstadt Darmstadt geworden ist. Wir wollen heute unsere Erlebnisse hierzu erzählen.

Zur Erinnerung: Die Stadt hatte über viele Jahre hinweg dieses Beteiligungsinstrument entwickelt, intensivst beworben und betrieben. Zahlreiche Artikel im Darmstädter Echo oder Frankfurter Rundschau dokumentieren dies eindrucksvoll. Wie wir aus der städtischen Verwaltung wissen, wurde dieses Instrument der Bürgerbeteiligung in der Vergangenheit auf mehreren deutschlandweiten Kongressen vorgestellt und schließlich als „Darmstädter Modell“ bezeichnet.

Der ehemalige Darmstädter Oberbürgermeister Jochen Partsch schreibt in seinem Grußwort zum zehnten bundesweiten
„Netzwerktreffen Bürgerhaushalt“ am 01. und 02. Oktober 2014 in Darmstadt zum roten Faden der Idee:

(…)“Beim Bürgerhaushalt geht es uns auch darum, zwischen den Wahlen Vorschläge und Ideen einbringen zu können und wirksam werden zu lassen. Die höchst bewerteten Vorschläge werden entweder direkt angenommen (z. B. EDV-Ausstattung in Schulen) oder in den politischen Prozess eingegeben. So sind sie Gegenstand der politischen Debatte in der Stadtverordnetenversammlung und nicht nur in der Schublade als Gegenstand einer Alibiveranstaltung zur Scheinbeteiligung versunken.
Ulrich Beck warnte in den Neunzigern in der Schrift „Erfindung des Politischen“ vor politischen Institutionen, die zu Zombie Institutionen werden; die also eigentlich schon tot sind, aber nicht sterben können. Wir sollten alle Möglichkeiten nutzen, um lebendige Institutionen zu schaffen, die keine „Scheinkümmerei“ betreiben oder eine „marktkonforme Fassadendemokratie“ bilden.“ (…)

Ein großartiges Statement, wie wir finden!

Hier kann man das ganze Dokument einsehen:

Die Stadt entwickelte in den Folgejahren ein Konzept des Bürgerhaushaltes mit zwei zentralen Projekten:

„Unser Vorschlag für die Politik gibt Ihnen die Möglichkeit, Ihre Vorschläge zur Stadtpolitik einzureichen, über die Ideen anderer zu diskutieren und über diese abzustimmen.“ (Quelle: https://da-bei.darmstadt.de/page/buergerhaushalt_uebersicht )

„Unser Projekt für die Stadt“, der zweite Strang des Darmstädter Bürgerhaushalts 2.0, bietet Ihnen die Chance, Ihre Projektidee vorzustellen und bis zu 5.000 Euro für die Umsetzung zu erhalten.“ (Quelle: https://da-bei.darmstadt.de/page/buergerhaushalt_uebersicht )

Natürlich haben wir von Zusammen in der Postsiedlung e.V. diese Möglichkeiten von „Unser Vorschlag für die Politik“ genutzt und haben über mehrere Jahre hinweg konkrete Verbesserungsvorschläge für unser Quartier eingereicht. Das Versprechen der Politik war klar: Der bestplatzierte Vorschlag im Quartier (meiste Stimmen) wird von der Verwaltung geprüft und mündet in eine Magistratsvorlage. Und da wir stets mit vielen Menschen im Dialog waren, wurden unsere Vorschläge für das Quartier Darmstadt-West über alle Jahre jeweils zum bestplatzierten Projekt.

Hier eine kleine Aufstellung:

Jahr 2019: 1.Platz Darmstadt-West: Vorschlag # 199: Zugang für Rollatoren: Bürgersteig vor Quartierladen Postsiedlung absenken

Ergebnis: Eine zustimmende Magistratsvorlage inkl. unseres gesamten Antragstext, siehe hier…

Die Folge: Ein Treffen mit einer Mitarbeiterin des Mobilitätsamtes bei uns vor Ort im Jahr 2021 (zwei Jahre später). Gutes Gespräch. Aufnahme der Punkte. Nach Monaten Nachfragen von unserer Seite. Auskunft: Die Mitarbeiterin hat wohl das Mobilitätsamt verlassen.

Im Frühjahr 2022: Erneute Kontaktaufnahme eines Mitarbeiters des Mobilitätsamtes, der erklärt er sei erst wenige Tage neu im Job. Trotzdem sehr gutes, informatives und ausführliches Gespräch. Dann leider wieder Funkstille. Erneute Nachfrage. Wahrscheinlich zutreffende Antwort: Es sei so viel zu tun.

Ergebnis: Wir sind im Jahr Fünf nach der Abstimmung, keine Umsetzung, keine weitere Information zur Umsetzung.

Am Quartierplatz vor dem Quartierladen im Jahr 2019 – bis heute unverändert…

Jahr 2020, Vorschlag # 407: Alternative Mobilitätsangebote in und um die Postsiedlung stärken

Ergebnis: Eine zustimmende Magistratsvorlage inkl. unseres gesamten Antragstext, siehe hier…

Folge: Bis zum heutigen Tag keine Kontaktaufnahme. Nachfragen blieben unbeantwortet.

Ergebnis: Wir sind im Jahr Vier nach der Abstimmung, keine Umsetzung, keine weitere Information zur Umsetzung.

Auf unsere Initiative hin im Jahr 2017 innerhalb von drei Monaten umgesetzt: book-n-drive Standort auf dem Quartiersplatz. Auf die größere Umsetzung warten wir noch…

Jahr 2021, gefährliche Verkehrssituation Einmündung Moltkestraße / Bessunger Straße (oberhalb Kiosk)

Ergebnis: Zustimmung zur Idee, aber wegen (plötzlicher) personeller Bindung in Sachen Rheinstraßenbrücke und Nieder-Ramstädter-Straße auf absehbare Zeit keine Kapazitäten für eine Umsetzung.

Die Magistratsvorlage mit unserem gesamten Antragstext, siehe hier…

Gefährlicher Übergang Bessunger Straße / Moltkestraße

Jahr 2022: Vorschlag zur öffentlichen Toilette auf dem Platz Moltkestraße (Notwendigkeit Kiosk Außenbestuhlung)

Kein Projekt im gesamten Bürgerhaushalt der Wissenschaftsstadt Darnstadt hat 2022 mehr Stimmen bekommen (stadtweit Nr.1)!

Im Zuge des Dialogs zum Kiosk-Wiesen-Streits im Sommer 2023 konnte erreicht werden, dass seit Spätsommer 2023 eine kleine Komposttoilette aufgestellt wurde. Das freut uns natürlich sehr, auch wenn das nicht dem Wunsch nach einer barrierefreien Toilette entspricht, die auch für Menschen mit Handicap zugänglich ist.

Im Jahr 2023 wurde der Bürgerhaushalt eingestellt.

Was bleibt? Sehr viele Stunden ehrenamtliche Arbeit von uns über mehrere Jahre für die Idee eines Bürgerhaushalts, in der Menschen ihre konkrete Anliegen aus dem Quartier heraus in die Hand nehmen können. Vier konkrete und praxisnahe Vorschläge. Das Ergebnis haben sie gerade selbst gelesen.

Unser Wunsch: Die Politik der letzten Jahre ist durchzogen von vielen kleineren und größeren temporären Projekten und anderen Maßnahmen, die mit einer immensen Öffentlichkeitsarbeit und viel Geld gepusht werden, deren konkrete Ergebnisse aber – diplomatisch ausgedrückt – überschaubar sind. Auf zum nächsten Projekt! Der Bürgerhaushalt der Stadt scheint sich hier nahtlos einzufügen. Der ehemalige OB Jochen Partsch schrieb 2014 im eingangs bereits zitierten Grußwort zu den Vorschlägen der Bürger: „So sind sie Gegenstand der politischen Debatte in der Stadtverordnetenversammlung und nicht nur in der Schublade als Gegenstand einer Alibiveranstaltung zur Scheinbeteiligung versunken.“ Hmh. Es wirkt heute wie eine Prophezeiung.

Die Postsiedlung – Solidarität findet Stadt.