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Allein im medizinischen Labyrinth – ein konkreter Fall im Quartier als Musterbeispiel

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Stellen sie sich einmal folgende Sitaution vor: Sie sind bisher gut durchs Leben gekommen, mittlerweile jenseits der 80 Jahre, leben nach Tod des Partners alleine in einer kleinen Erdgeschosswohnung einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft.

Da es mit den Beinen nicht mehr so gut läuft, haben sie einen Rolllator, mit dem sie gut zurecht kommen und alle notwendigen Dinge mit kürzerer Distanz eigenständig erledigen können. Lebensmittel einkaufen, Besuche beim Hausarzt, Apotheke usw.. Sie können trotz Hörgerät nicht mehr so gut hören, haben aber auch damit eine Umgangsweise entwickelt, die erstaunlich gut funktioniert. Dank ihrem kleinem Haustier fühlen sie sich auch nicht ganz alleine.

SeniorInnen-Mittagstisch im Quartierladen

Nun gibt es auch bei ihnen aufgrund des Alters einige Erkrankungen, eine davon muss mit einer Operation behandelt werden. Wer das schon erlebt hat, kennt wahrscheinlich den Weg. Besuch beim Hausarzt => Überweisung zum Facharzt. Der ist in der Stadtmitte. Dort zwei Termine, mühsam mit dem Rolllator über das Kopfsteinpflaster. Die Termine hat freundlicherweise jemand vom Quartierladen für sie vereinbart, denn telefonieren klappt mit dem starken Hörproblem nicht mehr so gut. Dann: Einweisung in die Klinik. Dort muss dann wieder ein Termin vereinbart werden.

Wochen später der Termin in der Klinik. Dort soll man sich auf Station im zweiten Stock vorstellen, um dann gesagt zu bekommen, man müsse jetzt erst in eine zentrale Patientenaufnahme Gebäude weiter. „Es stehen Schilder, sie werden das schon finden“. Die Dame dort will nicht in der gebotenen Lautstärke sprechen, es bleibt daher alles unverständlich. Vom Quartierladen ist aber eine Vertrauensperson dabei, die nicht nur die Hinfahrt organisiert hat, sondern auch für die Aufnahme dabei bleibt. Denn danach geht es wieder heim, da die Krankenkasse die Übernachtung bis zur OP nicht bezahlt, da solle man am Morgen der OP selbst kommen. Wie man das mit oben genannten Handicap hinbekommt, wenn man bald 90 Jahre alt wird und alle Verwandten tot oder weit weg sind, interessiert keinen.

Dann ist da noch die Katze. Die muss in Pension, die Pension ist am Stadtrand. Mit Rolllator und Katzenbox unerreichbar. Die Ehrenamtlichen vom Quartierladen übernehmen das selbstverständlich, schließlich ist die Katze ein wesentlicher Faktor im Leben der Betroffenen.

Ein Leben ohne Katze ist möglich, aber sinnlos.

Nach der OP natürlich der umgehende Besuch bei der Betroffenen im Krankenhaus. Es gab ein Missverständnis wegen der regelmäßig einzunehmenden Medikamente. Nicht alle Krankenschwestern nehmen sich die Zeit, sich ganz nah an das Ohr der Betroffenen zu begeben und direkt dort langsam reinzusprechen. Dann klappt Kommunikation. Sonst nicht. Der Ehrenamtliche kennt aber die Medikamente der Betroffenen und kann das Missverständnis klären. Zum Glück, es war ein Herzmedikament.

Der Tag der Entlassung. Am Nachmittag des 23. Dezember bekommen wir auf Nachfrage mit, dass die Betroffene „wahrscheinlich“ am nächsten Tag entlassen wird. Nachfrage: Wie wahrscheinlich ist wahrscheinlich? Schließlich ist nach acht Tagen im Krankenhaus nicht mehr viel zu Hause im Kühlschrank und an Heiligabend die Geschäfte zeitig zu. Darüber erfolgt keine weitere Auskunft. Der Ehrenamtliche vom Quartierladen beschließt, einfach einkaufen zu gehen, irgendwer wird die Sachen schon essen, notfalls bezahlt es der Verein.

Heiligabend: Die Wahrscheinlichkeit tritt ein, um 10 Uhr ist die Entlassung. Die Klinik hat den Pflegedienst für die Stützstrümpfe nicht informiert. Es gibt kein Rezept für den Verbandswechsel. Kein Arzt verfügbar. Da die Katze noch aus der Tierpension geholt werden muss, Abfahrt ohne Rezept. Der Pflegedienst wird zwar später das Ein- und Ausziehen der Stützstrümpfe trotz voller Feiertagsplanung (fluchend) noch übernehmen, nicht aber den Verbandswechsel – der muss von der Betroffenen mühevoll selbst vollbracht werden – bei einer langen Wunde im Gesicht.

Trotzdem bleibt am Ende ein Hauch von Weihnachten: OP geglückt, Kühlschrank voll. Katze wieder happy zu Hause und die heillos verlegte Fernbedienung wurde durch den Kauf einer Neuen kurz vor Ladenschluss durch einen Ehrenamtlichen auch noch ersetzt.

Daher: Alles happy? In diesem Fall ja, grundsätzlich eher nicht.

In unserem Quartier leben 7000 Menschen, ca. ein Drittel davon über 65 Jahre. Die meisten unserer Besucherinnen und Besucher im SeniorInnen-Mittagstisch oder Freitagscafé sind alleinstehend. Der geschilderte Fall war nur ein Fall – von wahrscheinlich vielen ähnlich gelagerten Problemen. Wir fragen uns: Wie viele dringend notwendige medizinische oder soziale Interventionen finden nicht statt, weil sie von den Betroffenen organisatorisch nicht zu wuppen sind? Wir wissen selbst von vielen weiteren kleineren und größeren Fällen.

Über 70% der Menschen mit Pflegebedarf in diesem Land werden zu Hause versorgt. Wenn die Quote der stationären Versorgung im Altenheim nur um weitere 10-20% steigen würde, würde unser Sozialsystem nahezu zusammenbrechen. Es würde Milliarden kosten, das hierzu notwendige Personal ist zudem am Arbeitsmarkt nicht vorhanden.

Aus unserer Sicht ist es auch weder fachlich noch menschlich zu verantworten, Menschen in Heimen zu versorgen, die sehr gerne in ihrem Quartier mit seinen sozialen Bezügen weiterleben möchten – oft auch wegen ihres geliebten Haustiers, welches sonst ins Tierheim müsste.

Wir fragen uns, wie wir weitere quartiernahe Unterstützungsstrukturen schaffen können, zu denen Betroffenen eine solide Vertrauensbasis aufbauen können, die soziale Treffpunkte herstellt, an denen Freundschaften geknüpft werden können, in denen nachbarschaftliche Solidarität wirksam werden kann.

Hierfür wollen wir im neuen Jahr streiten. Antworten finden. Neue Fragen aufwerfen.

„Jeder braucht sein trautes Umfeld – Keiner wohnt für sich.“ (Herbert Grönemeyer in „Und immer“)

Die Postsiedlung – Solidarität findet Stadt.