Frau R. ist eine sympathische alte Dame, die uns regelmäßig im Umsonstladen besucht. Dort steht ein Kaffeetisch, an dem man sich kostenfrei einen Bio-Kaffee einschenken kann und andere Nachbarinnen und Nachbarn trifft. Auf ein Schwätzchen. Manchmal bringt jemand einen selbstgebackenen Kuchen mit – es sind immer nette Begegnungen.
An diesem Samstag ist Frau R. wirklich empört. Sie hat einen Abholschein des Paketdienstleisters DHL in der Hand. Weil sie angeblich nicht zu Hause war, aber das ist nochmal ein ganz anderes Thema. Auf dem kleinen Abholschein für ihr Paket steht aufgedruckt, dass ihr Paket in einer Packstation im Haardtring abholbereit sei. Das diese Abholstation ziemlich weit weg ist für eine ältere Dame von fast 90 Jahren ohne Auto – auch darum soll es heute nicht gehen. Denn über der Adresse der Packstation auf dem kleinen Zettel steht klein gedruckt „App gesteuerte Packstation“.
Da Frau R. in der Nachbarschaft bestens vernetzt ist, hat sie natürlich gleich herausgefunden, was dies für sie bedeutet: Diese Packstationen von DHL (seit Ummontage auch neu in der Felsingstraße zu besichtigen) haben keinen Bildschirm und Scanner mehr, mit dem man bisher problemfrei mit seiner Abholkarte vorbeigehen konnte, diese einscannte und dann das eigene Paket bekam.
Anders gesagt: Bisher musste man sich mitunter nur darüber ärgern, dass DHL und andere Paketdienste nicht selten eine Paketkarte in den Briefkasten geworfen haben, obwohl man zu Hause war. Dann musste man schauen, wie man sein 10 oder 20 kg Paket als SeniorIn oder Mensch mit Handicap nach Hause brachte. Ohne Auto oder Lastenfahrrad. Oftmals half dann jemand aus der Nachbarschaft, dem man dann als Dank eine Tafel Schokolade für den Service in die Hand drückte.
Die neueste Masche von DHL hat jetzt eine ganz andere Qualität: Wenn ihr Paket in eine solche „App gesteuerte Packstation“ verbracht wird, dann bekommen sie das Paket einfach nicht. Zumindestens nicht, wenn sie wie Frau R. kein Smartphone besitzen. Und natürlich auch nicht, wenn sie nicht die App von DHL darauf installieren möchten.
Das bedeutet in diesem Fall (und wahrscheinlich in tausenden weiteren Fällen): Frau R. bekommt das an sie geschickte Paket einfach nicht., weil sie kein Smartphone mit App besitzt. Und auch gar nicht besitzen möchte. Was DHL hier betreibt, nennt man seit einiger Zeit „Digitalzwang“. Denn die Firmenpolitik von DHL und anderen angeblichen „Technik-Pionieren“ ist eine unverschämte Nötigung in Reinkultur.
Was ist Digitalzwang?
Digitalzwang ist, wenn es keine analoge oder datenschutzfreundliche Alternative zu einem Produkt oder Service gibt, obwohl sie realisierbar wäre.
Er unterteilt sich in vier Ebenen:
- Digitalisierungszwang: Es gibt keine analoge Alternative mehr. Ohne Smartphone oder PC werden Sie aus dem öffentlichen Leben ausgegrenzt.
- App-Zwang: Sie brauchen eine App, die nur zu bestimmten Bedingungen installierbar ist (Smartphone-Besitz, Wahl des Betriebssystems, Zugang zum App-Store, Tracker, Datenzugriff).
- Kontozwang / Accountzwang: Sie können einen Dienst nur nutzen, wenn Sie sich ein Konto anlegen und dazu Angaben zu Ihrer Person machen. Liegt auch vor, wenn zur Installation einer bestimmten App (App-Zwang) ein Google- oder Apple-Konto vorausgesetzt wird.
- Datenabgabezwang: Ein Dienst ist nur verfügbar, wenn Sie bereit sind, Überwachungstechnologien wie Tracker und Cookies zu akzeptieren.
Prinzipiell gilt: Je größer der Nachteil ist, der Ihnen gegenüber der digitalen Lösung entsteht, desto größer ist auch der Digitalzwang – insbesondere wenn es um Teilhabe am öffentlichen Leben geht. Ganz besonders Leistungen im Bereich des Staates und der Grundversorgung müssen immer auch eine analoge Alternative beinhalten.
Wir finden: Es muss immer auch einen Weg geben, am öffentlichen Leben teilzuhaben, ohne zunehmend Daten abtreten zu müssen. (Quelle: https://digitalcourage.de/digitalzwang)
Der Paketdienstleister DHL hat hierfür im letzten Jahr von dem Verein Digitalcourage den bundesweit bekannten Negativpreis BigBrotherAward erhalten. Die Deutsche Post DHL Group erhielt den BigBrotherAward 2023 in der Kategorie Verbraucherschutz für praktizierten Digitalzwang. Sie will die Kund.innen durch die Umstellung (der Funktionsweise) ihrer Packstationen dazu zwingen, ein Smartphone und ihre Post & DHL-App zu nutzen. Die Post & DHL-App sendet ungefragt Daten an Tracking-Firmen. Dieser Digitalzwang gehört besonders gerügt, denn hier schließt ein ehemaliges Staatsunternehmen Bürgerinnen und Bürger von einer wichtigen Grundversorgung aus.
Unserem Quartierarbeiter Bastian Ripper sind solche Fälle wie der von Frau R. nicht neu. Er sagt, dass er in seiner täglichen Beratungsarbeit jede Woche mit Fällen konfrontiert ist, in denen Nachbarinnen und Nachbarn von bisher für sie selbstverständlich verfügbaren Dienstleistungen ausgegrenzt werden. Wie hier beschrieben bei DHL, beim vergeblichen Versuch einen Arzttermin ohne „Doctolib“ zu vereinbaren, beim vergeblichen Versuch eine Fahrkarte für die HEAG-Straßenbahn zu kaufen, beim radikalen Abbau von Kassen mit Personal im manchen Supermarkt, bei der Umstellung des Mieterservice von VONOVIA auf eine App, bei der Umstellung aller Dienstleistungen des Darmstädter Jobcenters auf eine App…..
Er sagt, dass nicht unbedeutende Teile seiner Arbeitszeit mittlerweile darauf verwendet werden müssen, die negativen Folgen des Digitalzwangs für nicht wenige Menschen zu beheben. Auf diesem Weg wurde natürlich auch eine Lösung für das Paket von Frau R. gefunden. Ein netter Nachbar investierte 1 Stunde seiner Zeit, um das Paket zu Fuß von der entfernten Packstation mit seinem Smartphone und dort installierten DHL App abzuholen.
„Das von Steuergeld bezahlte Quartierarbeit einmal dafür zuständig wird, die ausgrenzende Geschäftspolitik von immer mehr Firmen und Institutionen zu beheben, das hätte ich nicht so vorausgesagt“, so unser Quartierarbeiter abschließend.
Wir bleiben am Thema dran!
Die Postsiedlung – Solidarität findet Stadt.